Es wird höchste Zeit: Seit vielen Jahren sprechen und schreiben wir über die digitale Transformation. Und doch ist der Mittelstand noch nicht so weit.
Inzwischen häufen sich allerdings die Krisen. Unternehmen sehen sich mit einer Vielzahl von Herausforderungen konfrontiert – von instabilen Lieferketten über steigende Energiepreise bis hin zum Mangel an qualifizierten Mitarbeitenden und vielen anderen mehr. Diese Situation findet inzwischen sogar Eingang in die Lexika: 2022 kürte das Collins Dictionary „permacrisis“, das „an extended period of instability and insecurity“ meint, zum Wort des Jahres.
Eine Folge der sich teils rasant verändernden Umfelder ist ein steigender Ergebnisdruck. In den Bilanzen sieht es oft sehr düster aus: Gewinne schrumpfen oder Unternehmen geraten in die roten Zahlen. Abhilfe leisten kann da nur ein beherzter Blick auf die Geschäftsmodelle. Diese und die dazu gehörigen Geschäftsprozesse sind kritisch zu überprüfen – und im Bedarfsfall an die sich wandelnden Umfelder und Situationen anzupassen. An der digitalen Transformation kommt dabei kein Unternehmen vorbei. Ermöglicht der Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien doch diverse Optimierungen:
- Kürzere Kommunikationswege beschleunigen Arbeitsabläufe.
- Durch die Automatisierung oder Teilautomatisierung von Routineaufgaben haben Mitarbeitende mehr Kapazitäten für Aufgaben mit größerem Wertbeitrag.
- Digitalisierte Prozesse liefern Daten für belastbare Prognosen und beschleunigen so die Entscheidungsfindung.
Es geht also nicht um das „Ob“ oder „Wann", sondern um das „Wie“: Wie können Unternehmen zentrale Prozesse digitalisieren?
Prozessmanagement ist Grundlage für Digitalisierung von Unternehmensprozessen
Das Erste ist: Firmen sind gefordert, für die Digitalisierung ihrer Geschäftsmodelle und Geschäftsprozesse zunächst ihre „Prozesslandkarte“ zu betrachten. Da reicht die Prozesslandkarte aus dem Qualitätsmanagement früherer Zeiten nicht mehr aus: Sie ist meist zu oberflächlich, häufig ist sie nicht einmal mit den beteiligten Mitarbeitenden erstellt worden. Solche Prozesslandkarten sind für die Digitalisierung überhaupt nicht tauglich: Es fehlen üblicherweise nicht nur konkrete und systematische Beschreibungen, sondern vor allem auch Daten und Dokumente.
Prozessmanagement ist somit leider oft ein Fremdwort oder Unwort in den Unternehmen. Es wird zwar immer über „unsere“ Prozesse gesprochen. Doch sie werden in den Unternehmen nicht „gelebt“. Aber was das wirklich bedeutet und was zu tun ist, ist vielerorts unbekannt. Eine konsequente Beschäftigung mit diesem Thema schafft dagegen viele Möglichkeiten – auch, weil das Prozessmanagement eine unbedingte Grundlage für die Automatisierung und Digitalisierung von Unternehmensprozessen ist.
Die meiner Erfahrung nach wichtigsten vier Schritte dabei sind folgende:
1. Führen Sie eine Ist-Prozessmodulation durch
Für eine Digitalisierung der Unternehmensprozesse ist zunächst eine gründliche Ist-Prozessaufnahme, eine Ist-Prozessmodulation, notwendig. Diese ist systematisch, sorgfältig und detailliert durchzuführen. Das heißt: Die Aufnahme sollte unbedingt in persönlichen und fachkundigen Interviews mit den beteiligten Mitarbeitenden erfolgen. Diese müssen zu Beginn der Prozessaufnahme sensibilisiert und ins Boot geholt werden. Bei den Interviews sollen die einzelnen Prozessaktivitäten sowie Eingangs- und Ausgangs-Zustände erfasst und dokumentiert werden. Neben der verbalen Beschreibung der Elemente eines Prozesses müssen auch die kennzeichnenden Daten und Dokumente aufgenommen werden. Diese sind für die spätere Automatisierung und/oder Digitalisierung unabdingbar.
2. Dokumentieren Sie Ihre Prozesse mit der BPMN 2.0
Für die Dokumentation der Prozesse sind Excel oder Visio heute nicht mehr wirklich nützlich. Erforderlich ist vielmehr ein Dokumentationstool mit Schnittstellen, die sich für die weitere datentechnische Verarbeitung und somit als Grundlage für eine Automatisierung und Digitalisierung eignen. Hier bietet sich die genormte BPMN 2.0 (Business Process Management Notation) an. Dieses Tool ist webbasiert und benutzerfreundlich zu handhaben. Und es ermöglicht kollaborative Zusammenarbeit mit mehreren Teams. Grundlage des BPMN-Tools ist eine zeichentechnische Darstellung mit genormten Elementen. Prozesse lassen sich damit klar, eindeutig und systematisch beschreiben. Zudem vereinfachen die genormten Schnittstellen die angestrebte Automatisierung und Digitalisierung.
Einordnung der eigenen Verantwortlichkeit führt zu neuen Sichtweisen
Die einzelnen Prozesse werden in sogenannte „Swimlanes“ dargestellt, in dem die jeweiligen Organisationseinheiten, wie etwa Kunde, Vertrieb, Einkauf oder Produktion, angeordnet werden. So ist es möglich, eine End-to-End-Prozesslandkarte – vom Kunden zum Kunden – darzustellen. Oft ist das für die Beteiligten fast schon wie eine Erleuchtung. Sie sehen ihre Tätigkeiten und Verantwortlichkeiten nicht mehr isoliert, sondern als Teil eines Ganzen – eben dem Unternehmen und den Kollegen. Das erzeugt neue Sicht- und Interpretationsweisen: Plötzlich gibt es Klarheiten und Zusammenarbeitsmöglichkeiten über die eigenen Tätigkeitsgrenzen hinweg.
3. Lassen Sie kleinere Teams die bestehenden Prozesse hinterfragen
In einem Folgeschritt sollten dann kleinere Teams die einzelnen Arbeitsabläufe danach hinterfragen, ob sie
- zweckmäßig,
- effizient und
- effektiv
sind. So entstehen sehr schnell Hinweise auf Prozessverbesserungen. Allein diese Maßnahme ermöglicht schon früh deutliche Kostenreduzierungen und eine bessere Betriebssicherheit. Darauf aufbauend, können dann kontinuierliche Verbesserungsprozesse (KVP) im Unternehmen implementiert und intensiviert werden.
4. Digitalisieren Sie geeignete Unternehmensprozesse
Sobald alle Geschäftsprozesse, bei denen das sinnvoll und möglich ist, auf Optimierungen hin untersucht worden sind, kann mit der Digitalisierung begonnen werden. Auch hierbei sollten die einzelnen Teams wieder ins Boot geholt werden. Als erstes bieten sich hier beispielsweise
- die Einbindung des vorhandenen ERP (Enterprise Ressource Planning),
- die Aktivierung eines gelebten Shopfloor-Managements und
- die Konzeption eines effizienten „Preventive Maintenance“ für einen reibungslosen Produktionsbetriebes an.
Darüber hinaus gibt es viele weitere Use Cases, die bei Industrie-4.0-Projekten schon erfolgreich umgesetzt wurden. Vorteile lassen sich in fast allen Unternehmensteilen aus digitalen Arbeitsabläufen ziehen – angefangen beim Einkauf über die Konstruktion, die Produktion und den Vertrieb bis hin zum Service. Es können auch Produktionsmaschinen in den Prozessen betrachtet werden: Selbst ältere Maschinen lassen sich durch ein Retrofitting integrieren.
Fazit: Einbindung der Mitarbeitenden ist in allen Phasen essenziell
Mit der digitalen Transformation von Geschäftsprozessen werden mittelständische Industrieunternehmen flexibler, effizienter und entscheidungssicherer. Damit schaffen sie ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl im Leadership, in der Unternehmensführung und bei den beteiligten Mitarbeitenden. Damit das gelingt, ist es meiner Erfahrung nach entscheidend, in allen Phasen des Transformationsprozesses stets die beteiligten Mitarbeitenden ins Boot zu holen und einzubinden. Aus folgenden Gründen:
- Geschäftsprozesse lassen sich im Rahmen der Ist-Prozessmodulation nur mit dem Fachwissen und den Erfahrungen der beteiligten Mitarbeitenden systematisch und detailliert aufnehmen.
- Einzelne Teams können ihre Prozesse mit den passenden Tools kollaborativ dokumentieren und so für die spätere Digitalisierung vorbereiten.
- Dabei ergeben sich erste Hinweise auf mögliche Optimierungen.
- Die Einbindung der Mitarbeitenden ist schließlich auch bei der eigentlichen Digitalisierung unverzichtbar, um die neuen Arbeitsabläufe mit Leben zu füllen.
Diese nun begonnenen Veränderungsprozesse dürfen nie aufgehalten werden, denn die Möglichkeiten werden sich in der Zukunft exponentiell erweitern. Augen und Sinne auf!